Wem immer es nach wissenschaftlichen Erkenntnissen dürstet, die gleichermaßen neu wie weitreichend sind, sollte zumindest dreierlei beachten: Erstens beginnt nahezu jede grundlegende Einsicht nicht etwa mit übergreifend-abstrakten Erwägungen, sondern mit einem sehr konkreten, oft vermeintlich kleinen Problem, das es zunächst einmal als Problem zu erkennen und in seiner Bedeutung zu entfalten gilt. Hat man dies getan, entpuppt sich dann erschreckend häufig, dass scheinbar noch so selbstverständliche Erscheinungen größte theoretische Schwierigkeiten bereiten, wenn man nur ein wenig über sie nachdenkt. Hat man diesen Schrecken endlich überwunden, ist es dann bisweilen nicht weniger bestürzend festzustellen, wie beschränkt sich die meisten Wissenschaftler für derartige „Kleinigkeiten“ interessieren.
Die von Mitteis behandelte Stellvertretung ist für all das ein vorzügliches Beispiel. Denn wer wollte bestreiten, dass dieses Rechtsinstitut – wie auch immer im Einzelnen ausgestaltet – sinnvoll, ja aus einer modernen arbeitsteiligen Welt nicht mehr wegzudenken und daher in unseren Vertragsrechten fest verankert ist? Dummerweise widerspricht die Stellvertretung nahezu sämtlichen gängigen Vertragstheorien. Denn diese stützen sich zur Begründung einer Vertragsverbindlichkeit weithin (mal subjektiv auf den Willen und mal objektiv auf das Erklärte abstellend) auf das Parteiverhalten bei Vertragsschluss. Doch der Stellvertreter ist nicht Partei, er entscheidet nicht über eine eigene Verpflichtung, sondern er richtet über das Schicksal anderer Personen. Stellvertretung ist Fremd-, nicht Selbstbestimmung, weshalb dieses Institut auch nicht etwa schon im römischen Recht, sondern erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts breite Anerkennung fand.
Aber was wären wir schon als echte Dogmatiker, wollten wir diesen Befund fremdbestimmter Verpflichtung einfach als das hinnehmen, was er ist, nämlich ein (weiterer) Widerspruch von Rechtsrealität und dem gängigen, weil allein auf das Parteiverhalten bei Vertragsschluss fixierten Vertragsdenkens! Nein, lieber konstruieren wir so lange herum, bis es doch wieder allein die Vertragspartner sind, deren Bindungsakt allein wir jeglichen Vertragsinhalt verdanken. Nach dieser Geschäftsherrentheorie (insbesondere von Savigny vertreten) will der Vertretene alles, was auch der Vertreter will – wie fiktiv auch immer eine solche Vorstellung sein mag.
Wahrhaft große Wissenschaftler – zumal in heutiger Zeit – geben sich mit solchen profanen Konstruktionsversuchen erst gar nicht ab. Wirklich elegant ist es, das, was es als rechtliches Phänomen eigentlich in irgendeiner Form zu begründen gäbe, lediglich zu behaupten. So die heutzutage dominierende „Repräsentationstheorie“: Dass ein Vertreter den Vertretenen binden könne, liege daran, dass der Vertreter an die Stelle des Vertretenen trete. Faszinierend daran ist, dass während diese „Theorie“ zumindest anfangs noch offen als Fiktion bezeichnet wurde und – in sehr anerkennenswerter Ehrlichkeit – ein noch zu lösendes Problem bezeichnen sollte, sie heute in Lehrbüchern wie Kommentaren weithin als wissenschaftlicher Erklärungsansatz beschrieben wird. Größeres Kopfzerbrechen findet hier schon längst nicht mehr statt, vom Erscheinen tiefergehender Monographien zur Stellvertretung ganz zu schweigen. Die letzte derartige Arbeit stammt von Müller-Freienfels aus dem Jahr 1955, der schon zum seinerzeitigen Forschungsstand bemerkte, dieser trage noch weitestgehend die dogmatischen Züge des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Leider gilt jedoch noch heute, was bereits in diesem 19. Jahrhundert zur Stellvertretung zu sagen war, nämlich dass diese ein im Grunde „abnormes Institut“ sei, „… das sich der Herleitung aus allgemeinen Prinzipien ebenso entschieden widersetzt, als es vom Rechtsleben gefordert wird …“ (Binder), weshalb selbst der BGB-Gesetzgeber die Vertretungsmacht ein „eigenartiges Rechtsinstitut“ nannte.
Mitteis trägt zum Verständnis der Stellvertretung zunächst dadurch bei, dass er die teils sehr unübersichtliche Diskussion ordnet, indem er einerseits grundlegende Begründungsansätze – gewissermaßen als rote Linien – herausarbeitet, andererseits aber auch interessante Variationen und ungewöhnliche Argumentationen erwähnt. Nicht minder ist seine kontinuierliche Arbeit anhand konkreter, einfacher Fälle zu schätzen, die dann besonders plastisch (und unangenehm) verdeutlichen, wo welcher Ansatz zu überzeugen weiß oder aber scheitert, soweit es darum geht, unser Recht verallgemeinernd zu beschreiben. Konkret berücksichtigt Mitteis nicht nur das grundlegende Mysterium der Stellvertretung (der Vertreter entscheidet mit Wirkung für und gegen den Vertretenen) oder das keineswegs offensichtliche Verhältnis von Bote und Stellvertreter. Vielmehr stellt sich an allen Ecken und Enden unseres Vertragsrechts vor allem eine Frage, nämlich wann auf welche Person – Vertreter oder Vertretener – abzustellen ist. Dies betrifft etwa diverse Irrtumskonstellationen, Formvorschriften, die gesetzliche Stellvertretung (zum Beispiel bei Minderjährigkeit oder juristischen Personen), Zurechnungsprobleme oder sogar das Internationale Privatrecht. Spätestens hier wird dann auch die hohe praktische Relevanz einer dogmatischen Erfassung der Stellvertretung deutlich, was etwa dann besonders handgreiflich wird, wenn man einmal nach verlässlichen Antworten zur praktischen Handhabung des § 166 BGB suchen durfte.
Daneben liefert Mitteis wichtige Anstöße, um eine für das klassische Vertragsdenken typische wie verhängnisvolle Punktualität, nämlich die gedankliche Fixierung allein auf das Verhalten der Vertragsparteien bei Vertragsschluss, aufzubrechen. Anknüpfend an Thöl spricht er das Offensichtliche deutlich aus, nämlich dass es bei einem mittels Stellvertretung geschlossenen Vertrag drei Akteure und nicht derer zwei gibt, die über dessen Inhalt entscheiden – und zwar ganz unabhängig davon, ob man diese Beiträge als Willenserklärung bezeichnet oder von einem „dreiseitigen Rechtsgeschäft“ spricht. Die entscheidende Herausforderung bei der Stellvertretung liegt darin, diese verteilte Entscheidungsfindung als solche anzuerkennen, gedanklich zu strukturieren und dogmatisch stimmig einzuordnen.
Das ganze Dilemma der Stellvertretung so deutlich herausgearbeitet zu haben, ist von Mitteis auch deshalb so verdienstvoll, weil das – bei der Stellvertretung eigentlich noch ziemlich offensichtliche – Phänomen einer Fremdbestimmung weit über die Stellvertretung hinausreicht. Ganz gleich ob der Staat (sei es gesetzlich oder richterrechtlich, dispositiv oder zwingend), ganze Verkehrskreise (etwa über Sitte, Übung und Brauch), werbende Hersteller, die Autoren Allgemeiner Geschäftsbedingungen (Anwälte, Notare etc.) oder eben Stellvertreter: In Wahrheit bildet jeder Vertragsinhalt ein buntes Mosaik von Entscheidungen unterschiedlichster Personen zu unterschiedlichsten Zeiten. Und je früher wir uns dieser Einsicht öffnen, desto näher rückt dann vielleicht auch der Tag, an dem wir tatsächlich verstehen, was vor sich geht, wenn sich zwei Personen zum Handschlag entschließen. Dabei dürfen wir uns ruhig auch insofern an Mitteis orientieren, als dieser beispielhaft für das hohe wissenschaftliche Niveau der Zivilistik des ausgehenden 19. Jahrhunderts steht. Dies meint vor allem den Anspruch einer möglichst verallgemeinernden, aber eben auch treffenden Beschreibung des geltenden Rechts mittels verbindlicher Tatbestände, um sich dann deren Überprüfung anhand konkreter Fallgestaltungen zu stellen, und bei alldem diejenige begriffliche Präzision zu beherzigen, die eine seriöse wissenschaftliche Auseinandersetzung nun einmal benötigt. Von daher wundert es auch nicht, wenn Mitteis Arbeit – in gewisser Hinsicht beschämend – bis heute das wichtigste Werk zur Stellvertretung bildet.