Dass Geisteswissenschaftler die Erkenntnisse anderer Disziplinen berücksichtigen sollten, ist von jeher in aller Munde. Doch wagt es jemand, genau das zu tun – womöglich gar mit verbindlichen Aussagen und in aller Konsequenz –, ist die Empörung groß. Diese Erfahrung durfte auch Ernst Haeckel machen, der in seinem Werk „Die Welträtsel“ nicht nur eindrucksvoll den seinerzeitigen Erkenntnisstand der Naturwissenschaften bilanziert, sondern wie kaum ein anderer sieht und ausspricht, was das eigentlich bedeutet.
Dabei greift er die für unser Denken so typische Verengung allein auf den Menschen an, die zwar sachlich nachvollziehbar ist, aber auch Fehlschlüsse provoziert. Diesen „Anthropismus“ versteht er als „… jenen mächtigen und weit verbreiteten Komplex von irrtümlichen Vorstellungen, welcher den menschlichen Organismus in Gegensatz zur ganzen übrigen Natur stellt, ihn als vorbedachtes Endziel organischer Schöpfung und als ein prinzipiell von dieser verschiedenes, gottähnliches Wesen auffasst.“ Das anthropozentrische Dogma gipfle in der „… Vorstellung, dass der Mensch der vorbedachte Mittelpunkt und Endzweck alles Erdenlebens – oder in weiterer Fassung der ganzen Welt – sei. … Diese grenzenlose Selbstüberhebung des eitlen Menschen hat ihn dazu verführt, sich als ‚Ebenbild Gottes‘ zu betrachten, für seine vergängliche Person ein ‚ewiges Leben‘ in Anspruch zu nehmen und sich einzubilden, dass er unbeschränkte ‚Freiheit des Willens‘ besitzt.“ Das so lange mit aller Macht verteidigte geozentrische Weltbild bildet so nur das bekannteste Beispiel für diese menschliche Ich-Süchtigkeit und die davon ausgehenden Bedrohungen für eine realistische Weltsicht.
Dieser Menschentümelei setzt Haeckel eine kosmologische Sicht entgegen: Denn was ist schon „… die sogenannte ‚Weltgeschichte‘ – d.h. der kurze Zeitraum von wenigen Jahrtausenden, innerhalb dessen sich die Kulturgeschichte des Menschen abgespielt hat – eine verschwindend kurze Episode in dem langen Verlauf der organischen Erdgeschichte, ebenso wie diese selbst ein kleines Stück von der Geschichte unseres Planetensystems; und wie unsere Mutter Erde ein vergängliches Sonnenstäubchen im unendlichen Weltall, so ist der einzelne Mensch ein winziges Plasmakörnchen in der vergänglichen organischen Natur.“ Habe man einmal seine Perspektive derart erweitert, widerlege dies auch den herrschenden anthropistischen Größenwahn, „… die Anmaßung, mit der der Mensch sich dem unendlichen Universum gegenüberstellt und als wichtigsten Teil des Weltalls verherrlicht.“ Dieser Größenwahn habe „… nicht allein zu einer höchst schädlichen Entfremdung von unserer herrlichen Mutter ‚Natur‘ beigetragen, sondern auch zu einer bedauernswerten Verachtung der übrigen Organismen.“ Demgegenüber lehre uns der Darwinismus, „… dass wir zunächst von Primaten und weiterhin von einer Reihe älterer Säugetiere abstammen, und dass diese ‚unsere Brüder‘ sind; die Physiologie beweist uns, dass diese Tiere dieselben Nerven und Sinnesorgane haben wie wir; dass sie ebenso Lust und Schmerz empfinden wie wir.“
Noch in einer weiteren Hinsicht ist Haeckel seiner Zeit voraus, fordert er so deutlich wie wenige, die gewaltigen Erkenntnisfortschritte der Naturwissenschaften endlich auch geisteswissenschaftlich umzusetzen. So kritisiert er den „… unnatürliche[n] und verderbliche[n] Gegensatz zwischen Naturwissenschaft und Philosophie …“ Vor allem an die Juristen adressiert beklagt er die „… wunderlichen Ansichten von ‚Willensfreiheit, Verantwortung‘ usw., denen wir täglich begegnen.“ Tatsächlich sei die Willensfreiheit gar kein Objekt kritischer wissenschaftlicher Erklärung, sondern reines Dogma, gar nicht existent. Der Dualismus gerade in Kants Philosophie sei ihr größter und schwerster Fehler, habe unendliches Unheil angerichtet und wirke noch heute fort. Und jeder normale Mensch soll das gleiche Pflichtgefühl haben? „Die moderne Anthropologie hat diesen schönen Traum grausam zerstört; sie hat gezeigt, dass unter den Naturvölkern die Pflichten noch weit verschiedener sind als unter den Kulturnationen.“ Und auch Altruismus sei nicht etwa ein metaphysisches Phänomen: „… der Egoismus ermöglicht die Selbsterhaltung des Individuums, der Altruismus diejenige der Gattung und Spezies, die sich aus der Kette der vergänglichen Individuen zusammensetzt. … Die sozialen Pflichten, welche die Gesellschaftsbildung den assoziierten Menschen auferlegt, und durch welche sich dieselbe erhält, sind nur höhere Entwicklungsformen der sozialen Instinkte …“
Dass Haeckel Kirche und Religion gehörig auseinanderrupft, verwundert bei alldem nicht. So wird er nicht müde, den Widerspruch von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Offenbarungstradition zu belegen. Es sind für ihn gerade die mediterranen Religionen, die den anthropistischen Größenwahn, die göttliche Verehrung des menschlichen Organismus, den Glauben an die persönliche Unsterblichkeit der Seele und das dualistische Dogma befördern und sich damit in unversöhnlichen Gegensatz zu jeder Naturerkenntnis stellen. Haeckel prangert die Kulturverachtung des Christentums an, die sich aus dessen Hinwendung zum Seelischen ergebe – genauso wie dessen Frauenverachtung. Er wendet sich gegen die steuerliche Förderung bestimmter Religionen und regt an, die christlichen Sagen und Legenden nicht als vermeintliche Wahrheiten als vielmehr gleich den griechischen und römischen als Dichtungen zu lehren. Und Hauptziel der höheren Schulbildung werde im 20. Jahrhundert die Ausbildung des selbständigen Denkens sein, das klare Verständnis der erworbenen Kenntnisse und die Einsicht in den natürlichen Zusammenhang der Erscheinungen.
Die Würdigung Haeckels großartigen Werks kann kurz ausfallen. Denn – und allein das spricht Bände – zumindest vieles stößt unter Wissenschaftlern heute weithin auf Zustimmung. Dabei formulierte dieser Universalgelehrte 1899 nur nochmals rückblickend, was er bereits 1866 (in seiner Generellen Morphologie der Organismen) und danach immer wieder festgestellt hatte. Das Geniale an Haeckel ist nicht nur die Breite seiner Interessen und Kenntnisse, sondern vor allem dessen Fähigkeit, so kurz nach dem erst 1859 erschienenen Monumentalwerk Darwins daraus (und aus seiner eigenen evolutionsbiologischen Forschung) auf zahllosen Gebieten die Konsequenzen gezogen zu haben. Dieses Talent, kombiniert mit dem Mut und der Ehrlichkeit, zu seinen Überzeugungen zu stehen („Das Einzige, was ich … in Anspruch nehme, und was ich auch von meinen entschiedensten Gegnern verlangen muss, ist, dass meine monistische Philosophie von Anfang bis zu Ende ehrlich ist, d.h. der vollständige Ausdruck der Überzeugung, welche ich durch vieljähriges eifriges Forschen in der Natur und durch unablässiges Nachdenken über den wahren Grund ihrer Erscheinungen erworben habe.“), bescherte ihm nicht nur Freunde. Vielmehr zeigte sich auch an Haeckel, wie wenig Lorbeeren man in der Wissenschaft erwarten darf, wenn man es als Wissenschaftler wagt, wissenschaftlich zu denken und zu reden.